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Persönlicher Kommentar

"Freie und Abrissstadt Hamburg"

Der Wert alter Bausubstanz wird in Deutschland verkannt.

Ein Plädoyer für gewissenhafteren Umgang mit Gebäuden

In Deutschland wird der Begriff „Denkmal“ in primitiver Weise und einseitig verstanden. Wenn ein Gebäude keinen berühmten Erbauer hat (Balthasar Neumann, Walter Gropius, …), nicht Ort eines geschichtlichen Höhepunktes war (Vertrag zwischen Karl dem Dicken und Ludwig dem Letzten), nicht aus großartigem Material besteht, technische Innovationen enthält, 100%ig landschaftstypisch ist oder sonst irgendwie außerordentlich und einzigartig, dann ist es für Deutsche und deutsche Behörden nicht denkmalwürdig und schützenswert. „Ach, das lohnt sich doch nicht mehr“, lautet die stereotype Reaktion. Aber zu „denken“ geben auch Gebäude, die nicht von vorneherein berühmt sind.

Das Maß des Bauens wahrnehmen

Bedacht werden muss viel mehr auch das Maß des Bauens. In welcher Form gibt das Gebäude einer Epoche Ausdruck? Spiegelt es die bescheidenen Anfänge der Nachkriegszeit? Ist seine Begrenztheit Ausdruck des 30jährigen Krieges? Welche soziale Stellung sollte das Haus unterstreichen? Wollte man seine gesellschaftliche Höherstellung hervorheben oder trotz aller Vorteile den Wohlstand diskret behandeln? Wenn nicht das ganze Haus aus Marmor besteht, gibt es dann vielleicht einen schönen Materialmix, der zu bewundern ist? Etwa Ziegelsteine, glasierte Ziegel, Sandstein plus Findlinge? Ließen die Erbauer Natursteine wirken oder wurden die Wände mit einem Material oder mit einer Farbe überzogen?

Gefährliche Hybris

So ein Epochenaspekt wird gelegentlich überraschend offenbar. Den Hamburgern war er nicht fremd, als sie – ausgerechnet – die Asbesthochhäuser Nähe Hauptbahnhof verteidigten: Das waren die ersten Groß-Neubauten nach dem 2. Weltkrieg, hieß es. Mit solchen Einzelreaktionen ist nicht viel gewonnen. Aber es ist in diesem Falle bemerkenswert, wie die Nachkriegs-Geschichtsvergessenheit und ein dümmlicher Optimismus doch wahrhaftig dazu führten, dass man ein giftiges Material verbaute! So etwas passierte früher nie.

Die Einbettung eines Hauses erkennen

Die Menschen früherer Zeiten waren viel mehr als wir heutzutage in ihre Umwelt, die Wetterbedingungen und ihre Arbeitsbedingungen eingebunden. Erst in der jüngsten Zeit konnte man beliebig hoch, mit beliebigen Mustern ins Meer, beliebig tief und in jeder anderen Weise bauen und sich arrogant über jede Bedingtheit hinwegsetzen. Früher waren Fragen entscheidend wie: Welche Seite kehrt das Haus der Straße zu, Längs- oder Schmalseite? Wie ist es zur Sonne ausgerichtet – mit den Wohn- oder Arbeitsräumen? Wie sind die Zimmer angeordnet? Liegen die Schlafzimmer über den Ställen, so dass einem durch die Wärme des Viehs ein bisschen wärmer werden konnte? Hat das Haus einen Keller oder einen Speicher unter dem Dach? Steht es auf Fundamenten oder Pfählen? Wollte man mit dem Steilheitsgrad der Dächer Wasser sammeln oder zu viel Wasser loswerden? Welche Bäume stehen um das Haus herum? Kastanien etwa halten viele Insekten ab, stören jedoch nicht die Bienen. Daher konnte ein kleiner Kätner zu seinem bisschen Acker und den zwei Ziegen auch noch durch Kastanienhonig etwas für den Markt gewinnen.

Lage bedeutet Merkmale

Über die Form hinaus spricht auch die Lage oder Einbettung eines Gebäudes in seine Umgebung eine bedeutsame Sprache: Grenzt es an eine Straße, Weiden, den Wald, Fließ- oder Stehgewässer? Ist die Umgebung locker bebaut oder bilden die Häuser eine geschlossene Reihe oder Vierecke mit geschützten Innenhöfen? Warum stehen sie – von einer Straße aus gesehen – hintereinander? Wenn sie einstöckig oder mehrgeschossig waren, worin liegt diese Struktur begründet: An finanziellen Mitteln oder am weichen Boden? Wie dicht wurde gebaut? In welchen „Jahresringen“ dehnten sich Städte oder Dörfer um alte Kerne aus? Wurde in den jüngeren Epochen dabei etwas gewonnen?

Inwieweit sind wir bereit, uns durch ein Gebäude stören zu lassen? Ist es so schlimm, wenn ein kleines Fachwerkhaus im Ort bleibt, auch wenn die Straße eine Kurve machen muss oder es rechts und links umfahren werden muss? Welche Lügen denkt sich die Stadt hierzu wieder aus – Fäulnis der Balken, Schimmelbefall, Holzwürmer, Zerbrechlichkeit der Ziegel, krumme Wände, Spuk um Mitternacht? Umgekehrt: Was ist uns die Anschaulichkeit unserer Geschichte wert?

Gebäude spiegeln technische und soziale Geschichte, machen Entwicklungen nachvollziehbar und anschaulich, erziehen zur Bescheidenheit und lassen nach dem Können der Vorfahren fragen, sei es, dass es Grenzen durch Bedingungen erfuhr oder dass Grenzen gesprengt oder dass Chancen genutzt wurden. Im ganzen riesigen Hamburg ist nur vom kleinen Komplex Deichstraße diese Mission erhalten: Das meisterhafte Zusammenspiel von Hausform mit Wohn- und Arbeitsteil, die Lage zwischen Antransport auf dem Wasserwege der einen Seite und Abtransport über die Straße der anderen Seite – und das Ganze dann auch noch sozial, indem viele Anrainer diese strategische Lage für sich nutzen konnten, egal ob sie mit Hering oder Pelzen handelten, und sich nicht nur einer breit machen konnte.

Der Tourismus stimmt mit den Füßen ab

Eigentlich müsste sofort einleuchtend sein, dass mit viel mehr Behutsamkeit im Umgang mit Gebäuden nichts wirklich Außerordentliches oder nur Romantisches verlangt wird. Wohin reisen denn die Leute? Wonach suchen die Touristen? In Freizeit oder Urlaub fahren die Menschen doch nicht in die City-Nord oder nach Steilshoop, Gelsenkirchen, Castrop-Rauxel, in die Dortmunder Innenstadt oder nach Köln-Chorweiler. Sie fahren nach Eckernförde, Lüneburg, Lübeck, Quedlinburg oder Görlitz. „Ach, wie schnuckelig“, möchten sie sagen können, und dahinter steht der Wunsch danach, die Generationen anderer Menschen und ihre Lebensweisen zu verstehen. Man sehnt sich nach überschaubaren, gemütlichen Sozialumgebungen. Wolkenkratzer würdigt man im Vorbeifahren. Das trifft entsprechend auf das Ausland zu, das zu seinem Vorteile weitaus weniger Zerstörungen als das kriegszerstörte Deutschland zu beklagen hat, so dass unser Bevölkerungsanteil, der im Ausland Urlaub macht, seit der Nachkriegszeit immer größer war als der der Inlandsurlauber. Die Sehnsucht, die dahinter steht, muss man doch ernst nehmen! Das begeisterte Erzählen der Urlauber von Simrishamn, York, St. Paul-de-Vence, Amalfi oder Budweis konnte einen – bei allem Verständnis – andererseits auch traurig stimmen: Wieso sucht oder findet ihr das nicht bei uns?

In Leipzig stieß man vor wenigen Jahren bei Aufräumarbeiten in der Nordwestecke auf die Überreste der ältesten und ersten Burg zur Stadtgründung. Nach der archäologischen Erfassung hat sich die Stadt nicht entblödet, das Gelände zum Bau eines armseligen Primark-Gebäudes herzugeben. Dabei hat diese Stadt doch mit der Bastion in der Südostecke ein Beispiel, wieviel Attraktion und Leben in altem Gemäuer stattfinden kann! In Großbritannien hätte man da sofort begrünt, hellen Kies ausgestreut und Bänke aufgestellt.

Nicht so die Dresdner: Sie puzzleten aus Trümmern die Frauenkirche wieder zusammen, und das ist heute die größte Attraktion Dresdens unter Touristen - noch vor Zwinger, Oper, Neustadt oder Schlosskirche. „Ach, wer will denn das noch zusammenkriegen“ die pessimistische Skepsis hört man heute von keinem mehr.

Am Geld kann es nicht liegen – ärmeren Staaten ist Denkmalerhalt wichtiger als Deutschland.

Darüber hinaus könnten Politiker und Behördenverantwortliche endlich mal das vielgelobte Europa ernster nehmen und sich dort orientieren, wie man mit dem baulichen Geschichtserbe anders umgehen könnte. So könnten sie etwa vom National Trust vor Scotland (NTS) lernen. Der kümmert sich insbesondere um kleine, „unbedeutende“ Häuser, Burgen oder Schlösser (denn um die von nationaler Bedeutung kümmert sich bereits der Staat). Wenn man sieht, aus was für Trümmern oder Resten der NTS teilweise ansehnliche Häuser wiedererbaut, fallen einem die Augen aus dem Kopf. Aber genau solche wiederhergestellten und technisch modern ausgestatteten Häuser finden sofort Abnehmer, so dass der NTS auch immer wieder Geld hereinbekommt und weitere Projekte schön herrichten kann. In Hochhäuser will auch in Großbritannien niemand. Der NTS hat sich dadurch eine so starke Stellung aufgebaut, dass die Leute, wenn ein Haus demoliert werden soll, sofort mehr spenden und sagen: „Kauft ihr das! Dann bleibt es uns erhalten.“ Wenn die Häuser einmal hergerichtet sind, gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass das Projekt berechtigt war und sich gelohnt hat. Denn auch ganze Dörfer und Städte profitieren von der Atmosphäre, die renovierte Ensembles einem Ort zurückgeben.

Glücklicherweise leistet der Deutsche Denkmalschutzverein Großartiges. Seiner Tätigkeit wäre eine stärkere Verbreitung zu wünschen. Denn auch er erlebt immer wieder: Wenn ein Gebäude einmal gerettet ist, wird das dankbar anerkannt, und niemand kann sich mehr vorstellen, dass man es nicht rettete.

Lebensumfelder wahrnehmen

Es entspricht dem grundsätzlichen Bedürfnis des Menschen, dass seine Lebensumgebung vielfältig und variantenreich ist. Das muss auch für die Stadtlandschaft gelten. Kleine Häuser, Hochhäuser, Blocks, Mietshäuser, Villen – Mischungen mit derart verschiedenartigen Gebäuden tragen zur Lebensqualität bei. Auch demgegenüber, dass die anonymeren, neu zusammengestellten Bevölkerungsteile in gesichtslosen Stadtteilen bei etwaiger Kriminalität begünstigt werden. Einerseits wegen der Grundbedürfnisse der Menschen nach Wohnlichkeit und Beschaulichkeit, andererseits aber auch, weil die neuen gesichtslosen Stadtteile ein Verstecken eher ermöglichen als variantenreiche und bevölkerungsstabilere Stadtteile. Man könnte doch endlich von Paris lernen, das sich ungemein anstrengen muss, die eskalierende Verbrechens- und Mafialage in den Banlieues in den Griff zu bekommen! Warum erst Reparatur hinterher statt Verhinderung von Auseinanderbrechen der gesellschaftlichen Solidarität!

Eine Entschlossenheit, mehr Gebäude zu bewahren, ermöglicht vielmehr die Chance zu mehr Wohn- und Lebensformen: Ist da nicht in jüngster Zeit ein Bunker zu edlen Wohnungen umgewandelt worden? Fabrikhallen, wie sie in Barmbek soeben wieder nach Hamburger Art demoliert werden, hätten längst den Rahmen für Wohnungen abgeben können oder könnten als Gewächshäuser für große Nutzpflanzen dienen und dazu Modelle für Hausbegrünung abgeben.

Sprit, Energieaufwand, Lärm

Die Abrisse als solche dürfen auch nicht mehr als Banalität abgetan werden. Sie sind schon alleine durch ihren Aufwand direkt umweltschädlich: In unserer Nachbarschaft wurde während drei (3!) Wochen ein unterkellerter Bungalow abgerissen. Dazu brummten die ganzen Tage ununterbrochen schwere Maschinen, und wenn diese brummen, bedeutet das hohen Dieselverbrauch. Das Neumaterial (Zement, Beton) als solches erfordert zur Herstellung viel Energie. Ganze Stadtviertel werden verdichtet, so dass Oberflächen verloren gehen oder versiegelt werden (Zufahrten). Historische Ensembles ließen Pflanzen- oder Tierarten mehr Lebensraum übrig. Besser wäre, man erweiterte die Nutzbarkeit von kleinen Häusern durch den Anbau von wohnraumtauglichen Wintergärten. Diese würden helfen, in der kalten Periode den Heizbedarf niedrig zu halten, und die Bewohner bekämen mehr Platz. Das rückhaltlose Vollstopfen auch der letzten Grünrestchen in Hamburg kostet nicht nur Wiesen- oder Gartengelände sondern auch Gewässer. Zuflüsse und Grundwasserbildung werden verringert, so dass etwas, das einmal Fluss war, wie die Cloaca maxima des antiken Roms anmutet. Dabei könnte das Wandse-Rinnsal, wenn es natürlich groß wäre, eine Wohngegend ebenso reizvoll verschönern und Wohnwert schaffen wie andernorts die Alster.

Wieso sind die Verwaltungen und manche Parteien demgegenüber so unsensibel? Wird wo eine Autobahn gebaut, sind sofort Vereine auf dem Plan, die mithilfe von seltenen rosa Fröschen oder dreibeinigen Vögeln versuchen, die Baumaßnahme abzuwenden oder wenigstens großen Zusatzaufwand zu erzwingen. Wieso zählt die Natur aber nur draußen, nicht in der Stadt?

Besonders schädlich wirkt sich die Abreißerei dahingehend aus, dass sie möglichen Wohnraum unnötig verteuert. Wenn etwa drei Wochen lang ein Bungalow abgerissen wird, so verursacht doch schon der lärmende, spritverbrauchende Maschinenpark hohe Kosten. Das Abbruchmaterial muss heutzutage - was richtig ist - sortiert und einer Wiederverwendung zugeführt oder ordentlich entsorgt werden. Die dazu erforderliche längere Sortierzeit und die Abtransporte zu verschiedenen Entsorgungsmöglichkeiten treiben die Kosten ebenfalls hoch. Natürlich werden diese Kosten auf spätere Mieter und Mieten verteilt. Doch wer soll sich diese unnötig verteurten Mieten noch leisten können?

Besonders grotesk geriet der Abriss des Deutschlandhauses am Gänsemarkt. Mit Geräten, wie sie noch nie jemand sah, wurde dem schönen Ziegelhaus der Garaus gemacht. Abrisszangen riesig hoch wie Krane zerrten am und schlugen in das Gebäude, während gleichzeitig ebenso riesige Pumpen Wasser spritzten, damit das Gebäude nicht so staubte. Auch diese Zertrümmerung dauerte mehrere Wochen. Was jetzt? Das künftige neue Gebäude sieht ganz ähnlich aus wie das alte Deutschland-Haus. Warum dieser Aufwand? Die Sparkasse wird sich vollständig in das Gebäude begeben. Diese Mehrkosten bedeuten für mich, dass ich nie etwas mit der Sparkasse unternehmen werde. Es kann ja nur irrsinnig teuer werden.

„Geschichte wird durch originale Orte erhalten und vorgehalten. Deren Material ist ein Wissensspeicher. Ohne es kann ich keine Geschichten erzählen.“ Prof. Thomas Danzl, Denkmalpfleger und Konservator aus Anlass des Abrisses des Kommandantenhauses KZ Sachsenburg.

 

Martin Steffe

Autor/in:
Martin Steffe
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